Stand: 10.04.2023 05:00 Uhr
Viele Menschen mit ADS oder AD(H)S kennen Probleme im Berufsleben, ecken manchmal an. Für die Schneiderin Roxane Porsack aus Lübeck (34) war eine Selbständigkeit genau das Richtige. Ihr hilft es, sich Aufgaben selbst einteilen zu können - und es geht nicht ohne feste Routinen und viel Disziplin.
Roxane Porsack sitzt an der Nähmaschine - voll in ihrem Element. Sie produziert zur Zeit gelbe T-Shirt-Kleider. Dabei verarbeitet sie ausschließlich bio-zertifizierte und fair gehandelte Stoffe. Sie ist sich sicher, intuitiv den für sie perfekten ADS-Beruf ausgesucht zu haben - lange bevor sie mit Mitte 20 ihre Diagnose bekam. "Wir können uns gut auf kleine Dinge konzentrieren", sagt die 34-Jährige. "Puzzlen, häkeln, stricken - diese kleineren Aufgaben, aber auch grobes Handwerk, zuschneiden, planen: Von allem etwas, immer etwas Neues - das ist typisch ADS."
AD(H)S kommt auch bei Erwachsenen vor
Experten zufolge haben etwa fünf Prozent der Menschen eine Aufmerksamkeits-Defizits-Störung. Kommt Hyperaktivität hinzu, spricht man von AD(H)S. Lange hat man diese Entwicklungsstörung des Gehirns vor allem mit zappeligen, unkonzentrierten und verträumten Kindern in Verbindung gebracht - betroffen sind allerdings auch Erwachsene wie Roxane Porsack, denn AD(H)S verschwindet nicht einfach.
Menschen mit AD(H)S können sich voll in ein Thema vertiefen, sich über lange Zeit gut konzentrieren, auch wenn es sonst eher schwerfällt - das nennt man Hyperfokus.
Konzentrationsstörungen und eine gewisse Verplantheit können im Job schnell für Probleme sorgen. Bevor sie ihren eigenen Laden eröffnet hat, hat Roxane Porsack in verschiedenen Jobs gearbeitet, hatte Kolleginnen und Kollegen sowie Vorgesetzte. Das war oft anstrengend, sagt sie - für alle Beteiligten: "Mit ADS neigt man dazu, viele Dinge gleichzeitig zu tun und selten in der Reihenfolge, in der der Chef sagt: Das wäre jetzt wichtig."
"Medikamente helfen mir, Dinge geregelt zu kriegen"
Seit sich Roxane Porsack mit ihrer eigenen Schneiderei mit Fair-Trade-Kleidungsgeschäft selbständig gemacht hat, geht es ihr viel besser. Vor allem die Flexibilität tut ihr gut. "Buchhaltung muss ich an bestimmten Tagen machen, an denen mein Hirn mir das erlaubt." Wann sie Stoffe zuschneidet, Bestellungen tätigt, neue Schnittmuster entwirft - als Selbständige kann sie sich ihre Aufgaben frei einteilen. Dazu helfen ihre Medikamente, sich zu konzentrieren, Prioritäten zu setzen und Aufgaben auch wirklich zu erledigen, sagt sie.
Trotzdem ist Roxane Porsack auf feste Routinen angewiesen - nach wie vor ist sie manchmal etwas zerstreut. "Meine Mitarbeiterin und ich setzen uns morgens vor der Arbeit eine halbe Stunde hin, trinken Kaffee und reden über alles Mögliche. Und dabei kommen dann ganz viele Informationen über den Tisch, die ich sonst vergessen hätte, zu erzählen - die aber wichtig sind."
Unter Stress läuft gar nichts
Für den nötigen Überblick hängt eine etwa zwei Meter große Tafel mit einer To-do-Liste im hinteren Bereich des Ladens. Auch Ordnung ist extrem wichtig, sagt Roxane Porsack. Alles muss an seinem Platz sein: "Suchen kostet zu viel Zeit und Kraft." Dazu muss die Schneiderin wichtige Termine langfristig im Blick haben. Sie fängt sie schon weit vor Quartalsende an, die Buchhaltung vorzubereiten. Kurz vorher ginge es nicht - unter Stress sei sie wie blockiert.
AD(H)S-Coach: Besser nicht im Job über Diagnose sprechen
Neben der kurzen Aufmerksamkeitsspanne kennen es viele Menschen mit AD(H)S, dass sie bei unangenehmen und monotonen Tätigkeiten schneller die Lust verlieren. Das liegt an einem Dopamin-Mangel im Gehirn. Kristina Meyer-Estorf aus Hamburg ist AD(H)S- und Autismus-Coach. Sie berät unter anderem in Jobfragen. Sie empfiehlt, sich bewusst auch auf solche Aufgaben einzulassen: "Es darf sich jetzt auch eine halbe Stunde doof anfühlen, und ich freue mich auf den nächsten Abschnitt - vielleicht ein schönes Mittagessen mit einer Kollegin, oder eine kurze Auszeit."
Kristina Meyer-Estorf rät davon ab, im Job offen mit Vorgesetzten über eine ADS- oder AD(H)S-Diagnose zu sprechen. Ihrer Erfahrung nach werden Betroffene noch immer im Beruf stigmatisiert - vielleicht auch unterschätzt. Stattdessen solle man besser klar formulieren, was man braucht, um gut arbeiten zu können: Zum Beispiel deutlich definierte Aufgaben, ein reizarmes Einzelbüro, flexible Arbeitszeiten oder die Möglichkeit, selbstbestimmt zu arbeiten.
"Ich mag, dass ich ADS habe"
Kreativität, ihre Risikobereitschaft und ein gutes Händchen im Umgang mit den Kundinnen und Kunden - auch das gehört zu ihrer ADS, sagt Schneiderin Roxane Porsack. Dazu kommt die Fähigkeit zum "Hyperfokus" - Menschen mit AD(H)S können sich voll in ein Thema vertiefen, sich über lange Zeit gut konzentrieren, auch wenn es sonst eher schwerfällt. Das kennt auch Roxane Porsack.
Wenn sie in solchen Phasen eine neue Kollektion designt und dabei wieder vergisst, einkaufen zu gehen, lässt sie sich von einer Freundin bekochen. Sich helfen zu lassen war wichtig, um mit ihrer ADS umgehen zu können, sagt Roxane Porsack. Die Leidenschaft für Ihr Unternehmen und die Überzeugung, etwas Sinnhaftes zu tun, helfen ihr dazu über schwierige Momente hinweg. Denn noch heute kommt sie hin und wieder an die Grenzen ihrer Belastbarkeit, ist überfordert: "Ich mag mein Leben und ich mag, dass ich ADS habe", sagt sie. "Es ist eine Herausforderung, aber es bringt mich auch extrem weit."
Weitere Informationen
Dieses Thema im Programm:
NDR 1 Welle Nord | Moin! Schleswig-Holstein – Von Binnenland und Waterkant | 28.03.2023 | 19:15 Uhr
Author: Ruben Harrison
Last Updated: 1702424521
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